28.04.2014, 15:22 Uhr

Wie gefährlich der Forschungs-Atomreaktor in Jülich tatsächlich war

Münster / Jülich – Der am Forschungszentrum Jülich zu Versuchszwecken betriebene Atomreaktor war für die Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen ein hochgradig gefährliches und dabei unbekanntes Risiko. Im Betriebszeitraum ist es dort immer wieder zu Störfallen gekommen, die tatsächlich deutlich schlimmer waren als seiner Zeit dargestellt. Glücklicherweise sind die Zwischenfälle ohne verheerende Folgen verlaufen.

Diese im Nachhinein erschreckende Bilanz geht aus einem neuen Bericht hervor, den eine von der Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor (AVR) sowie dem Forschungszentrum Jülich (FZJ) eingesetzte Expertengruppe erstellt hat. Demnach hätten die Betreiber teils fahrlässig gehandelt. Das Forschungszentrum Jülich (FZJ) GmbH und die Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor (AVR) GmbH hatten 2011 die unabhängige Expertengruppe beauftragt, die Betriebsgeschichte des mittlerweile stillgelegten AVR-Reaktors aufzuarbeiten.

Umweltbelastung durch Wassereinbruch in Reaktor

Laut Bericht der Experten wurde im Januar 1999 wegen einer aus anderem Grund durchgeführten Messung zufällig eine erhöhte Konzentration radioaktiver Stoffe im Regenwasserkanal des Reaktors festgestellt. Die Experten können nach eigenen Angaben nicht nachvollziehen, weshalb keine routinemäßige Überwachung der Aktivität im angrenzenden Boden und Grundwasser des Versuchsreaktors durchgeführt wurde. Als Ursache der Kontamination von Boden und Grundwasser werden Leckagen beim Umpumpen von hoch kontaminiertem Wasser nach dem Dampferzeugerstörfall 1978 angenommen. Mitte Mai 1978 kam es demnach beim Betrieb des Versuchsreaktors zu einem Schaden am Dampferzeuger, in dessen Folge insgesamt rund 27.000 Liter Wasser in den inneren Teil des Reaktors gelangten. Bereits im Vorfeld war es zu ähnlichen, kleineren Störfällen gekommen.

Expertengruppe weist zahlreiche ungemeldete Störfälle nach

Obwohl der Reaktor für solche Störfälle mit einer Selbstabschaltung ausgerüstet war, die dann eingreifen sollte, wenn die Kühlgasfeuchte zu hoch sei, griff dieser Mechanismus im Mai 1978 nicht. Die Betriebsmannschaft hatte nämlich zuvor die Messbereiche der Feuchtemessung so umgestellt, dass der Reaktor trotz zu hoher Kühlgasfeuchte weiter in Betrieb gehalten wurde. Erst sechs Tage nach Störfallbeginn wurde der Reaktor dann heruntergefahren.

Die Expertenkommission kommt zu dem Ergebnis, dass die Einstufung des Störfalls in die niedrigste Meldekategorie („N“, „geringe sicherheitstechnische Bedeutung“) nicht sachgerecht war. Es hätte zumindest eine Einstufung als „sicherheitstechnisch potenziell signifikanter Störfall“ in die Kategorie B, wenn nicht sogar in die höchste, die Kategorie A („sicherheitstechnisch unmittelbar signifikanter Störfall“), erfolgen müssen. Zudem rügen die Experten, dass weitaus weniger Ereignisse am Versuchsreaktor gemeldet wurden, als de facto aufgetreten sind. So seien ein Säureeinbruch im September 1971, ein unbeabsichtigtes Kritischwerden im März 1977, ein Gebläseschaden im Januar 1979 sowie weitere Störfälle nicht gemeldet worden.

Betrieb trotz erhöhter Temperaturen

Aus dem Bericht geht weiterhin hervor, dass der Reaktor über Jahre hinweg mit deutlich überhöhten Temperaturen betrieben worden ist. Da laut dem Gutachten eine Messung der Brennelementtemperaturen und der Temperaturverteilung im Primärkreis nicht möglich war, wurden die Temperaturverteilung im Kern und die mittlere Gasaustrittstemperatur zunächst anhand von Simulationsverfahren berechnet. Während der gesamten Betriebsdauer des Reaktors wurden nur drei verlässlichere Messungen (in den Jahren 1970, 1972 und 1986) mithilfe von Monitorkugeln durchgeführt. Bereits bei den ersten beiden Messungen wurden gewisse Abweichungen von Messwerten und berechneten Werten festgestellt. Für die Experten ist nicht nachvollziehbar, warum zwischen 1972 und 1986 keine weitere Temperaturmessung mit Monitorkugeln erfolgte, zumal auch nach 1972 Erkenntnisse über überhöhte Gas- und Brennelementtemperaturen vorlagen.

In einer Stellungnahme des Forschungszentrums Jülich zum Bericht der AVR-Expertengruppe heißt es, „dass Regeln guter wissenschaftlicher Praxis während des AVR-Betriebs nicht immer eingehalten worden sind.“ Man bedauere zudem, dass „es in der Vergangenheit gravierende Fehler und Versäumnisse gegeben hat, auch auf Seiten des Forschungszentrums“.

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