28.04.2016, 07:58 Uhr

30 Jahre Tschernobyl: Wie die Natur sich anpasst

Frankfurt – Nach der Atomenergie-Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 haben etwa 100.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Zurück blieb eine stark beeinträchtigte Natur. Wie es in Flora und Fauna rnud um Tschernobyl 30 Jahre nach dem Unglück aussieht, haben nun Experten untersucht. Sie kommen zu einem überraschenden Ergebnis.

Die „Todeszone“ von Tschernobyl dient Naturforschern auch als Referenzfläche für das Leben ohne menschlichen Einfluss. Und das scheint trotz andauernder Strahlung zu florieren. Denn offenbar konnten sich die Tiere an die Strahlung anpassen.

Wölfe, Elche und Wisente stören sich nicht an der Strahlung

Michael Brombacher von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt war in der Ukraine und den vom Reaktor-Unfall direkt betroffenen Sperrgebieten. In einem Interview mit dem Netzwerk-Forum zur Biodiversitäsforschung Deutschland (NeFo) am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH in Leipzig beschreibt er seine interessanten Beobachtungen. Wölfe, Elche, Wisente, balzende Birkhühner: Im „Staatlichen, radioaktiv belasteten Schutzgebiet Polesie“ auf weißrussischer Seite des Unfallreaktors von Tschernobyl werden Naturerlebnisse möglich, wie sie woanders in Europa nur mit sehr viel Glück zu bekommen sind. Die Tiere haben keine Scheu vor dem Menschen, da sie keine Jagd kennen. Diese fast völlige Abwesenheit des Menschen macht das Gebiet zu einem spannenden Forschungsobjekt.

„Der Reaktorunfall hat quasi eine Referenzfläche für eine natürliche Landschaft in Europa hinterlassen“, meint der Geoökologe Michael Brombacher, Leiter des Referats Europa der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). In Tschernobyl würde sichtbar, wie schnell oder langsam sich in einer solchen Landschaft wieder Wald entwickelt. „Daraus können wir wichtige Erkenntnisse ziehen, die auch für Flächen in Deutschland, wie etwa ehemalige Truppenübungsplätze, relevant sind.“

Schutzgebiet doppelt so groß wie Luxemburg

Das Schutzgebiet ist mit zirka 2.000 Quadratkilometern fast so groß wie Luxemburg und damit eines der größten Schutzgebiete Europas. Eingerichtet wurde allerdings zum Schutz des Menschen, denn auch 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe ist das Gebiet rund um den Unfallort radioaktiv verseucht. Die Strahlungsintensität 30 km rund um den Reaktor reicht von leicht erhöhten deutschen Durchschnittswerten in den Randzonen bis hin zu 1000-facher Stärke direkt am Reaktor.

Zunächst Deformationen und Fehlgeburten in der Tierwelt

Ein umfangreicher Bericht von 2009 fasst die Folgen für den Menschen, aber auch für die Natur zusammen. Vielfältige Deformationen bei Pflanzen und Tieren, eine starke Erhöhung von Fehlgeburten und als Folge davon eine starke Dezimierung der Tierpopulationen in den Jahren nach dem Unfall wurden festgestellt. Die chronische Strahlung sei aber auch heute noch wirksam. So vermuteten französische Forscher, die die Folgen der Radioaktivität auf Rauchschwalben untersuchen, dass deren Population sich nur durch stetigen Nachzug aus unbelasteten Gebieten erhalten könne.

Wildtier-Populationen unauffällig - viel mehr Wölfe

Aktuelle Auswertungen regelmäßiger Zählungen von Wildtieren wie Wölfen, Elchen, Hirschen, Rehen und Wildschweinen in der Schutzzone machen dieses Bild jedoch eher unwahrscheinlich. Zumindest scheint die Strahlung kein Begrenzungsfaktor für die Populationsentwicklung von Wildtieren zu sein, denn Vergleiche der Werte mit ähnlichen unbelasteten Schutzgebieten der Region ergab keine signifikanten Unterschiede. Bis auf die Zahl der Wölfe, die im verseuchten Gebiet sogar siebenmal häufiger vorkommen sollen – vermutlich aufgrund fehlenden Jagddrucks durch den Menschen.

Vögel fitter und mit mehr körpereigenem Antioxidans

Die Wildtiere schienen sich mit der chronischen Strahlung arrangiert zu haben. Neuere Untersuchungen an Vögeln zeigen, dass die Tiere offenbar physiologische Abwehrmechanismen entwickeln konnten, auch gegen hohe Strahlungsdosen. In Blutproben einiger der untersuchten Vogelarten fanden die Wissenschaftler erhöhte Werte des wichtigsten körpereigenen Antioxidans Glutathion, das durch Strahlung vermehrt entstehende freie Radikale abfängt. Darüber hinaus eine bessere körperliche Fitness sowie weniger DNA-Schäden im Vergleich zu schwach belasteten Gebieten. Ob dies auch für andere Tiergruppen zutrifft, untersuchen derzeit amerikanische Wissenschaftler vor Ort anhand von Wölfen.

Quelle: IWR Online

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