Atomhaftung: Experten sind sich uneins
Berlin - Die von der Bundesregierung geplante Ausweitung der Haftung der Energiekonzerne für Kosten für den Rückbau von Atomkraftwerken (AKW) und die Entsorgung des radioaktiven Abfalls wird von Sachverständigen völlig unterschiedlich beurteilt. Die Beurteilung reicht von "verfassungswidrig" bis "unzureichend".
In einer öffentlichen Anhörung des Bundestags-Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Entwurf eines Gesetzes zur Nachhaftung für Rückbau und Entsorgungskosten im Kernenergiebereich bezeichnete ein Teil der geladenen Experten den Entwurf als verfassungswidrig, während anderen die angestrebte Lösung noch nicht weit genug ging.
Konzerne sollen langfristig und umfassend für Atomgeschäft haften
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Energiekonzerne wie E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW zukünftig langfristig und umfassend für die von den Betreibergesellschaften zu tragenden Kosten für den AKW-Rückbau und die Atommüll-Entsorgung haften sollen. Das soll auch dann noch gelten, wenn die Konzerne sich zum Beispiel entschließen, das Geschäft mit den Kernkraftwerken abzuspalten. Derartige Pläne hatte der Energiekonzern E.ON zwischenzeitlich verfolgt, dann aber wieder korrigiert. Auch sollen unbekannte Zahlungspflichten, die erst in Zukunft eingeführt werden, erfasst werden.
"Konservierung der Haftungssituation" ist legitim
Der Sachverständige Gert Brandner von der Kanzlei Haver & Mailänder Rechtsanwälte bezeichnete die Nachhaftung der Energiekonzerne durch eine "Konservierung der Haftungssituation" als legitim. Zugleich erklärte er, dass der Gesetzentwurf deutlich über den Gesetzeszweck hinausgehe. "Das Rückbau- und Entsorgungskostennachhaftungsgesetz führt bei wörtlicher Anwendung dazu, dass nicht nur die Energieversorgungskonzerne, deren ,fortdauernde Haftung" das Gesetz sicherstellen will, neben dem Betreiber für die Kosten für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung aufzukommen haben, sondern auch deren beherrschende Gesellschafter, obwohl diese als Aktionäre nach bisheriger Gesetzeslage für Verbindlichkeiten der AG nicht haften", erläuterte Brandner. Das Gesetz gehe von der falschen Prämisse aus, dass herrschende Unternehmen auch jetzt schon haften würden. Das treffe aber nicht zu.
Atom-Nachhaftung als ungerechtfertigter Eingriff in die Eigentumsfreiheit
Auch Herbert Posser von Freshfields Bruckhaus Deringer sprach von einer vollständig neuen atomrechtlichen Haftung der Muttergesellschaften. Der Gesetzentwurf weiche stark von aktienrechtlichen Regelungen ab und führe eine unbegrenzte Gewährleistung ein. Die Haftung der Muttergesellschaften sie auch "zeitlich faktisch unbegrenzt". Posser bezeichnete den Gesetzentwurf als ungerechtfertigten Eingriff in die Eigentumsfreiheit. Er sei daher unvereinbar mit den Vorgaben des Grundgesetzes. Eingeführt werden solle eine Nachhaftung, "die unabhängig von der Eigenschaft als herrschendes Unternehmen und unabhängig vom Weiterbestehen der Betreibergesellschaft existiert". Das sei ein Novum im deutschen Recht.
Nicht verhältnismäßig
Laut Rechtsanwalt Marc Ruttloff (Gleiss Lutz) bricht der Gesetzentwurf mit allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen. Die Haftung des herrschenden Unternehmens werde weit über seine Gesellschaftereinlage hinaus erstreckt. Das Nachhaftungskonzept des Gesetzentwurfs genüge im Ergebnis nicht den Anforderungen an eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung. "Es ist mit den Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundatzes unvereinbar, es ist weder erforderlich noch angemessen. Ferner widerspricht es den verfassungsrechtlichen Maßstäben des Vertrauensschutzes", argumentierte Ruttloff
Entwurf mit der Verfassung im Einklang
Anders beurteilte Olaf Däuper von Becker Büttner Held den Entwurf. Die Nachhaftung sei "strikt subsidiär ausgestaltet, so dass eine Inanspruchnahme der beherrschenden Unternehmen nicht zu befürchten ist, wenn die Betreibergesellschaften ihre Rückstellungen in angemessener Höhe gebildet haben". Schließlich sei die Nachhaftung auch zeitlich befristet. Für Däuper steht der Entwurf mit der Verfassung im Einklang. Es gebe auch nicht die von anderen Sachverständigen so bezeichnete "Ewigkeitshaftung". Das Ende der Haftung sei klar definiert.
Stärkung des Verursacherprinzip
Professor Wolfgang Irrek von der Hochschule Ruhr West lobte den Gesetzentwurf als Stärkung des Verursacherprinzips. Aus ökonomischer Sicht sei der Entwurf zu befürworten. Allerdings könne der Entwurf nur der erste Baustein auf dem Weg einer substanziellen Erhöhung der Finanzierungssicherheit sein. Die Vermögenswerte der Konzerne sollten in einen Fonds in Form einer öffentlich-rechtlichen Stiftung übertragen und gesichert werden, "um für zukünftig erforderliche Zahlungen für Rückbau und Ewigkeitslasten als liquidierbare Masse zur Verfügung zu stehen", empfahl Irrek.
Unzureichend: Entwurf greift nicht bei Insolvenz der Mutterkonzerne
Auch für Rechtsanwältin Cornelia Ziehm geht der Gesetzentwurf nicht weit genug. Seit Jahrzehnten werde keine Finanzierungsvorsorge für Rückbau und Entsorgung getroffen. Die handelsrechtlichen Rückstellungen seien nicht insolvenzfest. Zwar werde die Begrenzung der Nachhaftung abgeschafft, aber der Entwurf greife nicht bei Insolvenz der Mutterkonzerne, warnte Ziehm. Daher bedürfe es weiterer gesetzlicher Maßnahmen zur Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen und zur Umsetzung des Verursacherprinzips im Atomrecht. Professor Georg Hermes von der Goethe-Universität in Frankfurt wies die Behauptungen der Verfassungswidrigkeit zurück. Es gebe keinen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz, sich der Haftung zu entziehen. Es handele sich bei dem Gesetzentwurf um einen zulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit zur Herstellung des Verursacherprinzips.
Quelle: IWR Online
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