Atomausstiegs-Kosten: Regierungs-Gutachten wird vom Aufputschmittel zur Beruhigungspille
Berlin – Das vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) in Auftrag gegebene Gutachten zur Überprüfung der Kernenergie-Rückstellungen in Deutschland hat bereits vor der Veröffentlichung für viel Wirbel gesorgt. Mitte September kursierte die Nachricht, dass diese Rückstellungen der AKW-Betreiber viel zu niedrig angesetzt seien und sorgte u.a. für Kurs-Abstürze bei den Aktien von E.ON und RWE. Nun liegt das Gutachten vollständig vor und alles ist wieder gut.
Auch die Aktien der beiden Versorger schnellen am Montagmorgen wieder in Höhe (E.ON: +8,0 Prozent, 9,86 Euro; RWE: +9,6 Prozent, 13,48 Euro; Börse Stuttgart). Denn die Botschaft des Gutachtens, des Wirtschaftsministers und der Atomkonzerne lautet gleich: Die Rückstellungen bilden die Kosten des Atomausstiegs vollständig ab. Erstmals kommt auch eine konkrete Zahl für die Höhe dieser Kosten auf den Tisch.
Rückstellungen für AKW-Rückbau und Entsorgung: Keine Beanstandung der Bilanzierung
Das Gutachten wurde von der Wirtschaftsprüfergesellschaft Warth & Klein Grant Thornton AG erstellt. Ziel ist es, für die allgemeine Öffentlichkeit transparent die zu erwartenden Kosten in insgesamt fünf Kategorien (von Rückbau bis Endlagerung) darzustellen. Die von den betroffenen Unternehmen gebildeten Rückstellungen in Höhe von 38,3 Milliarden Euro basieren auf geschätzten Kosten zu aktuellen Preisen in Höhe von rund 47,5 Milliarden Euro. Mit dieser aus Sicht der Prüfer nachvollziehbaren Kostenschätzung, die alle Entsorgungsschritte vollständig abbilden, würden die Unternehmen über internationalen Vergleichswerten liegen. So werden die Rückbaukosten in Deutschland mit durchschnittlich 857 Millionen Euro je Reaktor geschätzt, während die geschätzten Kosten in anderen Staaten zwischen 205 und 542 Millionen Euro liegen. Der von den Unternehmen bilanzierte Rückstellungswert von insgesamt 38,3 Milliarden Euro ist nach Auffassung der Wirtschaftsprüfer auf Grundlage der nachvollziehbaren Kostenschätzung der Versorgungsunternehmen zu Kosten, Kostensteigerungen und Diskontierungszinssätzen korrekt berechnet. Die Gutachter konnten keine Beanstandung an der Bilanzierung der Rückstellungen feststellen.
Regierung setzt Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Atomausstiegs ein
Dazu erklärte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD): "Der Stresstest zeigt: Die betroffenen Unternehmen haben bei der Rückstellungsbildung die Kosten vollständig abgebildet. Sie haben sich dabei an die einschlägigen Regeln gehalten. Die Vermögenswerte der Unternehmen decken in Summe die Finanzierung des Rückbaus der Kernkraftwerke und der Entsorgung der radioaktiven Abfälle ab. Das Kabinett wird, wie am 1. Juli zwischen den Koalitionsspitzen verabredet, in Kürze eine Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs einsetzen und den Entwurf des Gesetzes zur Nachhaftung für Rückbau- und Entsorgungskosten im Kernenergiebereich beschließen. Die Ergebnisse des Stresstests werden der Kommission zur Verfügung gestellt." Aus dem Gutachten ergebe sich kein neuer Handlungsbedarf. Die Szenarien mit den hohen Rückstellungswerten halte man für unwahrscheinlich, da sie langfristig höhere wirtschaftliche Verluste unterstelle, so Gabriel.
Versorger halten Alternativ-Szenario für „praxisfremd“
Zu dem Gutachten haben sich auch die vier betroffenen AKW-Betreiber in Deutschland, neben RWE und E.ON auch EnBW und Vattenfall, in einer gemeinsamen Erklärung geäußert. Das Gutachten habe keinerlei Beanstandung der Bilanzierungspraxis ergeben, heißt es darin. Die Untersuchung akzeptiere damit die seit Jahrzehnten geübte Rückstellungspraxis. Mit diesen Feststellungen hätten Spekulationen über einen etwaigen Bedarf für höhere Rückstellungen in den Bilanzen „keine sachliche Grundlage“, so die Atomkonzerne.
Zu den auch von Gabriel angesprochenen Szenarien mit hohen Rückstellungswerten heißt es: Diese Szenarien gehen „in Extremfällen von dauerhaft sehr niedrigen „Stress“-Zinssätzen aus und setzen gleichzeitig sehr hohe Kosten- bzw. Preissteigerungsraten an“. Damit werde bei diesen Stresstest-Sensitivitäten von einem sogar langfristig negativen spezifischen Realzins ausgegangen. Diese Annahmen seien „praxisfremd und werden bis heute in keiner Branche angewendet“, so die vier Energiekonzerne.
Quelle: IWR Online
© IWR, 2015