28.12.2021, 14:56 Uhr

Stromausfall: Fast 30 Prozent der französischen Atomkraftwerke sind abgeschaltet


©ASN, Mickael Clemenceau

Paris – Frankreich setzt bei der Stromversorgung bekanntlich auf Atomenergie, doch die Atomkraftwerks-Flotte ist ausgerechnet zur Winterzeit derzeit so unproduktiv wie noch nie. Das lässt die Strompreise steigen und könnte die französische Stromversorgung in den kommenden Wintermonaten ernsthaft gefährden.

Eigentlich stehen für die Stromversorgung in Frankreich insgesamt noch 56 Atomreaktoren zur Verfügung. Doch derzeit sind 15 Atomkraftwerke wegen Störungen oder Wartungen abgeschaltet und produzieren keinen Strom. Auch bei dem derzeit einzigen AKW-Neubau im französischen Flamanville eröffnen sich stetig neue Probleme.

Risse entdeckt: EDF muss unerwartet vier Atomkraftwerke abschalten

Bereits im Oktober 2021 sind bei der zehnjährigen Inspektion in dem ersten Block des Atomkraftwerks Civaux unverhofft Qualitätsmängel in der Nähe von Schweißnähten an Rohrkrümmern des Sicherheitseinspritzsystems festgestellt worden. Bei beiden AKW-Blöcken am Standort Civaux handelt es sich um die jüngste AKW-Generation vom Typ N4. Kontrollen am Block 2 in Civaux ergaben ähnliche Mängel. Das führte im November zur Stilllegung der zwei Reaktoren mit einer Bruttoleistung von über 3.000 MW (1.561 MW je Anlage).

Wie der französische Energieversorger EDF am 15. Dezember 2021 der nuklearen Sicherheitsbehörde ASN (Autorité de sûreté nucléaire) mitteilte, hat sich nach ersten metallurgischen Untersuchungen gezeigt, dass die Risse wohl auf Grund von Spannungskorrosion entstanden sind. Die betroffenen Teile sollen ausgetauscht werden, was zu einer unvorhergesehenen Verlängerung der AKW-Stillstandszeiten führt.

Weil die baugleichen Atomkraftwerke in Chooz (Ardennen) mit zwei Blöcken (je 1.560 MW Bruttoleistung) die gleiche Technologie verwenden, sind auch diese Atomkraftwerke vorsorglich und unplanmäßig stillgelegt worden. Der Reaktor Chooz Nr. 2 wurde am 16.12.2021 vom Netz genommen, der Block Chooz Nr. 1 am 18.12.2021. EDF rechnet damit, dass allein der Ausfall dieser vier Atomkraftwerke mit einer Bruttoleistung von über 6.000 MW bis Ende 2021 zu einem Ausfall der französischen Stromproduktion in Höhe von einer Milliarde Kilowattstunden führt.

Frankreich im Winter 2021: Rekord-Strompreise und Stromimporte aus Deutschland

Die Nichtverfügbarkeit von 15 französischen Atomkraftwerken hat weitreichende Folgen im Nachbarland. So steigen die Strompreise in Frankreich auf Rekordwerte und Strom muss u.a. aus Deutschland oder Spanien importiert werden. Sorge bereitet dem französischen Übertragungsnetzbetreiber RTE traditionell die bevorstehende Kälteperiode im Januar und Februar, weil die Franzosen überwiegend mit Strom heizen. Eine Entlastung der angespannten Situation könnte dagegen die niedrigere Stromnachfrage der Industrie wegen der Covid 19 Pandemie bringen.

Flamanville: Einziges französisches Ersatz-Atomkraftwerk seit 15 Jahren im Bau

In Frankreich befindet sich in einem Umfeld alternder Atomkraftwerke derzeit ein einziges Atomkraftwerk im Bau, das AkW Flamanville mit einer Leistung von 1.650 MW. Der EPR-Reaktor wird seit 2007 gebaut, sollte ursprünglich im Jahr 2012 fertiggestellt und 3,3 Mrd. Euro kosten. Nach nunmehr 15 Jahren Bauzeit ist der neue EPR-Reaktor noch immer nicht fertig und hat mittlerweile über 12 Mrd. Euro an Kosten verschlungen. Der gesamte Prozess der Inbetriebnahme gerät durch den Zeitverzug ins Wanken.

Im Jahr 2017 waren Anomalien beim Schweißen der Hauptdampfablassrohre aufgetreten. Die Inspektion des Reaktors durch die französische Sicherheitsbehörde ANS hatte danach „einen Mangel an Kenntnissen bei den Schweißarbeiten an den VVP-Rohren und Mängel bei der Überwachung der Dienstleister durch EDF“ ergeben. Seit 2019 werden Schweißnähte repariert, dieses Mal durch einen von Westinghouse entwickelten Roboter. Die Reparaturen sollen Ende April 2022 abgeschlossen sein.

Am 3. März 2021 teilte EDF der ASN dann eine Konstruktionsanomalie an drei Düsen des Hauptprimärsystems des Reaktors mit, deren möglicher Bruch nicht durch den Sicherheitsnachweis des Reaktors abgedeckt ist, weil ihr Durchmesser zu groß ist. Die von EDF vorgeschlagene Reparaturlösung wird von der ANS aber erst dann akzeptiert, wenn die erforderlichen Daten zum Nachweis der Wirksamkeit der Maßnahmen vorliegen.

Bereits seit 2019 ist der ASN zudem bekannt, dass Wärmebehandlungstemperaturen nach dem Schweißen bestimmter Schweißbaugruppen nicht eingehalten wurden. Schweißnähte des EPR-Dampferzeugers, des Druckhalters und der Hauptsekundärrohre sind betroffen. Vor den geplanten Heißtests haben EDF und das Tochterunternehmen Framatome eine Lösung für die Sicherheit des Personals und des Materials vorgeschlagen, die von der ASN aber auch erst noch geprüft werden muss.

AKW Flamanville: Gültigkeit der Anlauftests gefährdet Inbetriebnahme

Vor der Inbetriebnahme eines neuen Atomkraftwerks sind zahlreiche Tests und Inbetriebnahmeprüfungen vorgeschrieben. So prüft die ASN die Ergebnisse der im Juni 2021 eingereichten Anlauftests sowie der entsprechenden Updates, die regelmäßig von EDF übermittelt werden. Diese Ende 2020 begonnene Prüfung wird bis zur Inbetriebnahme der Anlage andauern, um die sich aus dem Fortgang des Inbetriebnahmetestprogramms ergebenden Aktualisierungen einfließen zu lassen. Hierzu zählt auch die Prüfung der Lösungen auf die entdeckten Anomalien.

Ein weiterer Punkt ist die andauernde Gültigkeit der bereits durchgeführten Inbebtriebnahmetests. Aufgrund der neuerlichen Verzögerungen auf der Baustelle des EPR-Reaktors Flamanville wurden zahlreiche Anfahrversuche durch EDF bereits lange vor dem geplanten Termin der Inbetriebnahme des Atomkraftwerks durchgeführt. So stellte sich die Frage, ob die bereits absolvierten Inbetriebnahmetests aktuell auch noch heute gültig sind, da betroffene Anlagenteile nach der Prüfung erst einmal abgeschaltet und teils seither nicht mehr in Betrieb waren. ASN forderte von EDF den Nachweis der fortdauernden Gültigkeit der Ergebnisse der Anlaufprüfungen, um die Konformität des Atomkraftwerks zu gewährleisten. Daraufhin musste EDF erst weitere Verfahren entwickeln, die eine dauerhafte Gültigkeit der Testergebnisse gewährleisten.

Ob das Atomkraftwerk Flamanville nach den bisherigen Terminverschiebungen, 10 Jahre Bauzeitverzug und einer Kostenexplosion nun Ende 2022 tatsächlich in Betrieb gehen wird, steht weiterhin in den Sternen. Die zukünftige Energiepolitik in Frankreich aber wohl auch.

Quelle: IWR Online

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